Wenn Jean-Claude Juncker am 27. Juni 2014 vom Europäischen Rat als Kommissionspräsident vorgeschlagen wird, dann liegt der Zeitplan vollkommen im Rahmen. Lediglich die Debatte wurde wegen Kritik am Spitzenkandidaten-Konzept, die vor allem von britischer Seite kam, intensiver geführt. Valentin Kreilinger zeigt in einem Vergleich mit 2004 und 2009, dass die Ernennung des neuen Kommissionspräsidenten nicht länger gedauert hat als üblich, obwohl das Konzept der Spitzenkandidaten eine Machtverschiebung weg von Rat, Parlament und Kommission hin zu den beiden großen europäischen Parteienfamilien mit sich bringt.[1]
Durch den Vertrag von Lissabon wurde die Rolle des Europäischen Parlaments als Vetospieler nochmals gestärkt: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament.“[2] Vor dem Vorschlag des Europäischen Rates führen das Europäische Parlament und der Europäische Rat Konsultationen in dem Rahmen durch, „der als am besten geeignet erachtet wird.“[3] Für diesen Prozess gibt es keine zeitliche Begrenzung. Das Europäische Parlament wählt den Präsidenten der Kommission dann mit der Mehrheit seiner Mitglieder (d.h. es sind 376 von 751 Stimmen nötig). Falls der vom Europäischen Rat vorgeschlagene Kandidat aber keine absolute Mehrheit im Europäischen Parlament auf sich vereinigen kann, „schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit einen neuen Kandidaten vor, für dessen Wahl das Europäische Parlament dasselbe Verfahren anwendet.“[4]
Im Jahr 2014 wird die Europäische Kommission erstmals unter voller Anwendung des Vertrags von Lissabon bestimmt, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Seit dem Vertrag von Maastricht, der dem Europäischen Parlament das Recht gab, bei dieser Frage konsultiert zu werden, konnte es seinen Einfluss konsequent ausbauen: Es interpretierte dieses Recht als ein Vetorecht[5] und Jacques Santer wäre zurückgetreten, falls er 1994 nicht eine Mehrheit im Europäischen Parlament hinter sich hätte vereinigen können (260 Abgeordnete stimmten für, 238 gegen ihn). Das Vetorecht wurde dann im Vertrag von Amsterdam festgeschrieben. Der Vertrag von Nizza ersetzte Einstimmigkeit im Europäischen Rat durch qualifizierte Mehrheit: José Manuel Barroso wurde im Jahr 2004 von Deutschland und Frankreich erst akzeptiert, als klar war, dass sich eine qualifizierte Mehrheit im Europäischen Rat hinter ihm versammeln würde.[6]
Nach der Wahl des Kommissionspräsidenten bergen die Auswahl und die Portfolios der Kommissare sowie die interne Organisation der nächsten Europäischen Kommission weiteres Konfliktpotential. Eine Entscheidung des Europäischen Rates in Reaktion auf das negative irische Referendum vom Mai 2008 sieht vor, dass jeder Mitgliedsstaat weiterhin einen Kommissar stellen wird. Über die Frage der Kompetenz und Eignung einzelner Kandidaten hinaus können strukturelle Fragen (wie die Idee, thematische „Cluster“ innerhalb der Kommission zu bilden, bei denen mehrere Kommissare einem Vizepräsidenten zugeordnet werden würden) den Zeitplan verzögern und den neuen Präsidenten der in seiner Freiheit in Bezug auf die Organisation der Kommission einschränken. Die gesamte Kommission wird – nach Anhörung aller Kommissare – mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen im Europäischen Parlament gewählt oder abgelehnt; diese Abstimmung ist (anders als die Abstimmung über den Präsidenten der Kommission) namentlich.[7]
Der Verlauf des Prozesses in den Jahren 2004 und 2009 zeigt, dass das Europäische Parlament seine Macht auszunutzen weiß: In beiden Fällen musste der Kommissionspräsident sein Team umbilden, damit die neue Kommission bei der Abstimmung nicht durchfiel, und Rocco Buttiglione und Rumiana Schelewa wurden nicht Mitglieder der Europäischen Kommission. Im Jahr 2004 dauerte es 39 Tage, bis der Kommissionspräsident gewählt wurde und 158 Tage, um die gesamte Europäische Kommission zu bestätigen. Fünf Jahre später waren es 101 und 247 Tage. Am Ende gab es jeweils breite Mehrheiten für den Kommissionspräsidenten und sein Kollegium – trotz oder möglicherweise gerade wegen der zeitintensiven Debatten.[8]
Laut Erklärung N°11 zu Artikel 17 (6) und (7) des Vertrags über die Europäische Union sind das Europäische Parlament und der Europäische Rat „gemeinsam für den reibungslosen Ablauf des Prozesses, der zur Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission führt, verantwortlich.“[9] Während der letzten Wochen traten divergierende Interpretationen bezüglich der Berücksichtigung des Wahlergebnisses offen zutage.
Wenn Jean-Claude Juncker nun vom Europäischen Rat vorgeschlagen wird, hat sich das Europäische Parlament, das im Juli 2013 eine Entschließung über verbesserte praktische Vorkehrungen für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2014 verabschiedet hatte, durchgesetzt und „der Kandidat für das Amt des Präsidenten der Kommission, der von der europäischen Partei unterstützt wurde, die die meisten Sitze im Parlament errang, [konnte] als Erster den Versuch unternehmen […], sich die Unterstützung der benötigten absoluten Mehrheit im Parlament zu sichern.“[10]
Wenn Jean-Claude Juncker dann am 14. oder 15. Juli 2014 vom Europäischen Parlament gewählt wird, hat sich das Spitzenkandidaten-Konzept etabliert und der Zeitplan wurde soweit eingehalten. Diese Entwicklung könnte aber letztlich zu einer Schwächung aller drei beteiligten Institutionen führen: des Europäische Rates, der sich einer Erwartungshaltung gegenüber sieht, nur einen Spitzenkandidaten vorzuschlagen; des Europäische Parlaments, das diesen Kandidaten de facto wählen muss; und der Europäischen Kommission, der enge politische Vorgaben gemacht werden. Die Gewinner wären – auch wenn sie bei der Europawahl 2014 zusammen nur noch auf etwa 53% kamen – die beiden großen europäischen Parteienfamilien und die Verlierer wären jene Regierungschefs, die sich an deren Rand (Viktor Orbán) oder außerhalb (David Cameron) befinden, da sie im Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit überstimmt werden können und „ihre“ Abgeordneten im Europäischen Parlament nicht gebraucht werden, weil sich eine breite Mehrheit findet, auch wenn dort europakritische und populistische Kräfte zulegen konnten.
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[1] Dieser Blog-Eintrag stellt eine überarbeitete Fassung der Ausführungen über den „Zeitplan bis zum Amtsantritt der neuen Europäischen Kommission“ in folgendem Aufsatz dar: Valentin Kreilinger, Prognosen zur Zusammensetzung und Arbeit des Europäischen Parlaments nach der Wahl 2014, in: integration 1/2014, S. 3-20 (http://www.integration.nomos.de/fileadmin/integration/doc/Aufsatz_integration_14_01.pdf).
[2] Artikel 17(7) EUV.
[3]Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz des Vertrags von Lissabon, 11. Erklärung zu Artikel 17 (6) und (7).
[4] Artikel 17(7) EUV.
[5]Simon Hix: Constitutional Agenda-Setting Through Discretion in Rule Interpretation: Why the European Parliament Won at Amsterdam, in: British Journal of Political Science 2/2002, S. 259-280.
[6]Simon Hix, Abdul Noury, Gérard Roland: Democratic Politics in the European Parliament, Cambridge 2007, Cambridge University Press, S. 13-17.
[7]Artikel 106 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments.
[8] Michael Kaeding: European elections 2014 and the emperor’s new clothes, in: BEPA Monthly Brief, May 2014, Issue 74, S. 6f.
Bei der Abstimmung über den Kommissionspräsidenten im Jahr 2004 413 Ja- und 215 Nein-Stimmen, bei 44 Enthaltungen; im Jahr 2009 382 Ja- und 219 Nein-Stimmen, bei 117 Enthaltungen. Bei der Abstimmung über das Kollegium im Jahr 2004 449 Ja- und 149 Nein-Stimmen, bei 82 Enthaltungen; im Jahr 2009 bzw. 2010: 488 Ja- und 137 Nein-Stimmen, bei 72 Enthaltungen.
[9]Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz des Vertrags von Lissabon, 11. Erklärung zu Artikel 17 (6) und (7).
[10]Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. Juli 2013 über verbesserte praktische Vorkehrungen für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2014.